Kompromisslos biodynamisch

Der Puschlaver Winzer Marcel Zanolari ist Träger des goldenen
Nachhaltigkeitspreises 2020 von Idee Suisse und experimentiert
auf seinem Weingut mit 115 Rebsorten. Seine Bilanz nach
nach einem heiss-trockenen Sommer: Biologisch-dynamische
Rebstöcke trotzen der Dürre.

JON DUSCHLETTA

Ein warmer Herbsttag neigt si

ch dem Ende zu. Feierabend. Nicht so für den umtriebigen Winzer und Kellermeister Marcel Zanolari. Er beendet eine kleine, private Degustation in den Lager und Verkaufsräumlichkeiten der Casa vinicola La Torre in Poschiavo, bespricht sich kurz mit seinen Eltern, Giuliano und Ivana Zanolari, setzt sich  in seinen klapprigen Audi und fährt los in Richtung Grenze. Eine knappe halbe Stunde später verlässt er die Via Nazionale und biegt Richtung Bianzone ab, steuert die 2001 gegründete Fattoria San Siro an und stellt den Wagen auf dem Hof ab. Hühner gackern, und sein Hund «Piuma» begrüsst ihn stürmisch. Neben Hühnern leben hier auch Ziegen und Pferde. Wichtige Helfer in den steilen Weinbergen.

Er stösst ein grosses Metalltor zu einer Lagerhalle auf, klaubt sich ein paar Trauben aus einer orangefarbenen Kunststoffharasse und misst mit einem Refraktometer den Öchslegehalt der Trauben. «Wir beginnen mit der Traubenernte je nach Sorte schon im August. » Sein Blick schweift über die grösstenteils leeren Harassen: «Wir haben die Harassen alle schon einmal geleert und die Trauben gekeltert.» Nachwuchshilfe, heute wie früher Aktuell hadert er etwas mit einer Charge Trauben, welche er und seine Mitarbeiter für befreundete Jungwinzer aus der Nachbarschaft einlagern. Die sind nicht nach biologischen Richtlinien kultiviert worden und entsprechen damit nicht seiner Lebens- und Geschäftsphilosophie. Er muss aufpassen, dass diese Trauben nicht mit seinen in Kontakt kommen. «Die jungen Weinbauern rekultivieren alte Parzellen, welche von deren Besitzern aus Altersgründen aufgegeben wurden. Und wir helfen ihnen, in der Weinproduktion Fuss zu fassen, genauso, wie uns früher die grossen Winzer wie Triacca oder Pola auch geholfen haben.»

Tatsächlich war sein Vater Giuliano Zanolari in den 1980er-Jahren der eigentliche Pionier von biologischem Weinanbau im Grenzgebiet zwischen Valposchiavo und dem Veltlin. Er experimentierte in Bianzone erstmals mit einem neuen Weinbauverfahren, welches ohne künstliche Pflanzenschutzmittel auskam und setzte seine Versuche mit den Rebsorten Nebbiolo, Pinot Nero und Cabernet Sauvignon über 15 Jahre fort. Schon 1987 wagte auch Marcel Zanolari den Schritt in den biologischen Weinanbau und führt diesen Weg bis heute kompromisslos und mit viel Herzblut weiter. Er ist ausgebildeter Weintechnologe, besitzt ein Brevet in Weinbau und Önologie der Ecole Supérieure d’Oenologie Changins Nyon und erlangte an gleicher Stätte auch das Eidgenössische Meisterdiplom eines «Maestro Cantiniere». Die biodynamische Produktion der Casa vinicola La Torre wird auf Schweizer Seite von Bio-inspecta und für die Schweiz und Italien seit 2016 auch durch Demeter kontrolliert und zertifiziert.

115 Traubenvariationen

Zanolari bewirtschaftet zwölf Hektaren Reben und nebenbei auch noch 500 Olivenbäume, welche aber gerade mal den Eigenbedarf an biologischem Olivenöl decken.

«Rund 30 Prozent unserer Trauben klassieren wir nicht als bio, entweder weil die Nachbarwinzer Blattdünger einsetzen oder ihre Reben spritzen und damit auch unsere Trauben auf den Nachbarparzellen verunreinigen.» Dafür experimentiert er mit bis zu 115 verschiedenen Traubenvariationen, meist in kleinen Mengen, auch «weil ich von überall, wo ich war, immer alles mit nach Hause genommen habe, was mich interessierte». Marcel Zanolari fährt vom Produktionsbetrieb durch enge und enger werdende Gassen hoch zu den Reben. Probiert auch hier von den blauen Trauben direkt ab Rebe, befindet diese für noch zu wenig reif, dafür den Zuckergehalt als zu hoch. Er streift durch das hohe Gras zwischen den Reben, sagt, er tendiere zu sogenannt wurzelechten Reben, arbeitet also weniger mit Stecklingen als vielmehr mit Wurzeltrieben und macht auch keinen Grünschnitt zum Ausdünnen der Traubenmenge. «Wir betreiben dafür eine Mischkultur, lassen, wo möglich, Ziegen und Pferde zwischen den Reben weiden, träumen aber von einer Permakultur, in der die Reben an anderen Pflanzen hochranken. Das ist aber bei den hier engen Platzverhältnissen schwierig umzusetzen.»

Sein Blick schweift über die malerischen Rebberge, das zersiedelte Bianzone vor sich und schaut dann zum  noch sonnenbeschienenen Gegenhang. Dann geht er zügig zurück zum Auto, und nach einem gekonnten Wendemanöver auf engstem Raum geht’s ab in die Weinkelterei. Natur und Wein arbeiten lassen Weil Marcel Zanolari seine biodynamischen Produktionsmethode so kompromisslos verfolgt, «das Schicksal meiner Reben gebe ich in die Hände der Natur», und auch den üblichen biologischen Mitteln wie Kupfer und Schwefel längst abgeschworen hat, nimmt er Mengenverluste von 35 bis zu auch mal 45 Prozent in Kauf. Die dadurch gewonnene Qualität habe sich dafür in den letzten Jahren regelmässig in Bestnoten und 2020 auch im Gewinn des Nachhaltigkeitspreises von Idee Suisse, der Schweizerischen Gesellschaft für Ideen- und Innovationsmanagement, manifestiert.

Zurück im Weinkeller sucht er zuerst fieberhaft nach Degustationsgläsern, probiert dann, endlich fündig geworden, einen im Gärstadium befindlichen Weisswein, einen «Vagabondo Bianco » und zapft danach ein halbes Glas «Sforzato 2018» aus einer naturbelassenen Amphore. Er lässt den noch jungen Wein lange in Mund und Gaumen kreisen und sagt kopfnickend: «Wenn ich könnte, würde ich allen Wein nur noch in solchen Amphoren ausbauen.» Traditionell arbeitende Weingüter würden den immer gleichermassen «schönen» Wein produzieren, diesen zum Schluss sogar noch «liften», nicht so Zanolari: «Wir lassen den Wein arbeiten und nehmen, was kommt. Genau das gibt unserem Wein seine Besonderheit, seine Typologie.» Klar könne auch er den Wein im Barriquefass ausbauen, «aber dann habe ich den genau gleichen Wein wie alle anderen und kann mich damit nicht mehr abgrenzen.»

Biologische Reben trotzen der Dürre Und wie hat sich der heisse und überaus trockene Sommer auf seine naturnahe Produktionsweise und letztlich auf die Traubenqualität ausgewirkt? «Erstaunlich geringfügig», sagt Zanolari und führt dies unter anderem auf die langfristige Bodenfruchtbarkeit und Vitalisierung der Rebberge zurück. «Die diesjährige Trockenheit hat gezeigt, dass Reben, die ohne chemische und giftige Zusatzstoffe behandelt wurden, sehr gut auf die widrigen Wetterbedingungen reagieren.» Dank des vitalen und dadurch auch resistenteren Bodens entsprächen die Erträge auch ohne Bewässerung jenen aus anderen Jahren, sagt er, während er einem seiner Mitarbeiter einen schönen Feierabend wünscht und die Tür zum Weinkeller hinter sich abschliesst. Schelmisch lächelnd öffnet er die Tür seines Audis und fügt an, «die Erträge sind heuer sogar eher höher ausgefallen als in früheren Jahren».

«Wir wollen unsere Rebberge und unseren Wein regenerieren», sagt Marcel Zanolari, «damit sich auch der Mensch regenerieren kann». Hin zu einem lebendigen, echten Wein.

Weinanbau ohne Chemie und Bodenbelastung als bedingungsloses Rezept von Biowinzer Marcel Zanolari für sein Weingut La Torre. Fotos: Jon Duschletta     ->pdf Artikel